Gastbeitrag von Daniel SchreiberDas Erzählen des "Ichs"

Das „Ich“ in Texten galt lange als verdächtig. Bestsellerautor Daniel Schreiber beobachtet nun eine ungeahnte Renaissance der persönlichen Perspektive. Vom Potenzial des autobiografischen Schreibens, Brücken zu bauen, von vermeintlicher Objektivität und inneren gesellschaftlichen Mauern.

Portrait: Daniel Schreiber
Daniel Schreiber (Christian Werner)
Daniel Schreiber, 1977 geboren, ist Autor der Susan-Sontag-Biografie „Geist und Glamour“ (2007) und der Essaybände „Nüchtern. Über das Trinken und das Glück“ (2014) und „Zuhause. Die Suche nach dem Ort, an dem wir leben wollen“ (2017). Er lebt in Berlin und arbeitet als freier Autor, u. a. für ZEIT Online. 2021 erschien sein Bestseller „Allein“. Beim Kölner Kongress 2023 von Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Kultur hielt er die Eröffnungsrede.

In jüngster Zeit sind immer wieder Stimmen zu vernehmen, die von einer Krise des Erzählens sprechen. Diese Stimmen beklagen eine Veränderung von Erzählweisen und nehmen vor allem jene Genres ins Visier, in denen heute mit einer neuen Selbstverständlichkeit „ich“ gesagt wird und die in den vergangenen Jahren eine ungeahnte Renaissance erlebt haben.
Viele der bekanntesten Bücher sind heute autobiografischer Natur. Autofiktionale Romane wie Annie Ernauxs „Die Jahre“ oder persönliche Essays wie Asal Dardans „Betrachtungen einer Barbarin“ werden mit wichtigen Preisen ausgezeichnet und finden eine große Lesendenschaft. Auch im Journalismus ist diese Entwicklung zu beobachten. In einem Zeitungstext „ich“ zu sagen, ist heute nicht mehr verpönt, sondern scheint Authentizität zu verbürgen. Und das Radio wird heute immer mehr von Formaten wie Podcasts und dokumentarischen Hörspielen eingeholt, die ohne eine persönliche Perspektive gar nicht vorstellbar sind. Diese „neuen“ Genres sind aus der medialen Landschaft unserer Tage nicht mehr wegzudenken und zu so etwas wie einer Signatur unserer Zeit geworden.
Ich führe diese Überlegungen mit verhaltener Überzeugung aus. Auch ich schreibe solche Texte. Obwohl das „ich“ in Texten wie diesem lange als verdächtig galt. Seine Erzählperspektive läuft der auktorialen Tradition großer realistischer Romane und auch der Haltung vermeintlicher Objektivität im Journalismus entgegen. Es ist immer schwierig, Paradigmenwechsel zu diagnostizieren, wenn man sich inmitten eines solchen Paradigmenwechsels befindet. Doch zurzeit macht es den Eindruck, als wäre die Perspektive des „Über-den-Dingen-Stehens“ dabei, sich zu überleben. Vielleicht, weil sie für viele Menschen an Aussagekraft verloren hat. Weil sie den Herausforderungen einer Zeit, die für die meisten von uns zunehmend von Unsicherheit bestimmt ist, nicht mehr gewachsen ist.
Es mag müßig erscheinen, darüber nachzudenken, wie wir einander Geschichten erzählen. Doch wenn wir uns Geschichten erzählen, erzählen wir uns immer mehr als nur diese Geschichten. Das sollten wir nicht vergessen. Nur indem wir uns Geschichten erzählen, können wir darüber nachdenken, wie wir miteinander leben wollen. Und gerade die Frage des Miteinander-Lebens ist in jüngerer Zeit zu einem explosiven Thema geworden. Man denke nur an die vielen hitzig und bis zur Ermüdung geführten medialen Debatten, in denen die sich gegenüberstehenden Positionen häufig unvereinbar scheinen. Es ist eine der wichtigsten Aufgaben unserer Zeit, Brücken zu bauen, die Begrenzungen unseres eigenen Horizonts zu überwinden – und jene inneren Mauern zu reflektieren, die wir alle mit uns herumtragen.
Meinem Gefühl nach setzt genau an dieser Stelle auch die Renaissance der Ich-Erzählungen in Literatur und Journalismus ein. Keine anderen Genres konfrontieren uns so sehr mit unseren inneren Mauern – unseren individuellen und unseren gesellschaftlichen inneren Mauern. Keine anderen Genres sind so gut in der Lage, Brücken zu bauen. Keine anderen Genres adressieren so direkt, wie wir miteinander leben wollen. Sie machen vor, wie es ist, andere Wege zu gehen. Sie machen auf konkrete Weise erfahrbar, wie es ist, alte Gewissheiten ziehen zu lassen. Ihre Menschlichkeit kann uns davon abhalten, in die Fallen von Hass und Ressentiment zu laufen. Indem sie davon erzählen, wie andere Menschen ihren Weg in einer Zeit der Unsicherheit finden, regen sie dazu an, einen Blick auf all die Geschichten zu werfen, die wir uns, vielleicht ohne es zu merken, selbst jeden Tag erzählen – und zu überprüfen, ob diese Geschichten noch zu uns passen oder ob es nicht Zeit für neue ist.

Aus dem Magazin, Ausgabe April 2023