Gastbeitrag von Bernhard PörksenNeue Zeithorizonte – Neue Perspektiven

Aufmerksamkeit ist eine elementar politische Kategorie. Und die Echtzeit-Hektik einer medialen Erregungsindustrie erhöht nicht einfach nur den Stresslevel für den Einzelnen. Sie vernichtet gesellschaftlich dringend benötigte Zukunftsenergien. Und raubt der öffentlichen Debatte Substanz.

Portrait eines Mannes vor einer grauen Betonwand.
Prof. Dr. Bernhard Pörksen (© Albrecht Fuchs)
Prof. Dr. Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen und Fellow des Thomas Mann House in Los Angeles. Letzte Buchveröffentlichung: „Die Kunst des Miteinander-Redens. Über den Dialog in Gesellschaft und Politik“ (gemeinsam mit Friedemann Schulz von Thun). Der hier abgedruckte Text ist ein Auszug aus Pörksens Rede im Rahmen der Reihe „55 Voices“ mit Ansprachen für die Demokratie, die die SZ publiziert und die der Deutschlandfunk am 14. November sendet.
Die öffentliche Aufmerksamkeit steckt im Angesicht der drohenden Klimakatastrophe in der falschen Zeitsphäre fest, so denke ich. Wir reagieren im Modus der Kurzfristigkeit auf Gefahren, die den Modus der Langfristigkeit erfordern. Der amerikanische Ökologe und Autor Stewart Brand hat ein kleines, elegantes Denkmodell entwickelt, das hilft, diesen Gedanken zu präzisieren. Er unterscheidet unterschiedliche Zeitsphären und Geschwindigkeiten der Zivilisation. Veränderungen in der Natur und der Evolution im Tierreich vollziehen sich äußerst langsam, im Rhythmus der Jahrhunderte und Jahrtausende. Auch der kulturelle Wandel benötigt viel Zeit. In der Politik ist – idealerweise – ein mittleres Tempo bestimmend, das sich der Echtzeit-Hektik verweigert. Der Handel reagiert hingegen schnell. Die Welt der Mode schließlich ist maximal flüchtig, stimmungsgetrieben, bloß saisonal, bestimmt vom plötzlich aufschäumenden Hype. Die grundsätzliche Schwierigkeit, so Stewart Brand, besteht darin, dass der Mensch im Anthropozän seine Umwelt immer massiver und auf Jahrhunderte und Jahrtausende hinaus verändert, aber das menschliche Denken von einer pathologisch kurzen Aufmerksamkeitsspanne regiert wird, das diese Veränderungen in ihrer zeitlichen Tiefendimension nicht erfasst. Und sie eben deshalb auch nicht debattierbar und adressierbar macht. – Hat wieder irgendwer gefordert, Inlandsflüge zu verbieten, den Konsum von Billigfleisch zu reduzieren? Schon ist es da, das große, tagesaktuelle, im Kern bloß modische Spektakel, das von Tugendterror und grüner Hypermoral handelt und die neueste Meinungsumfrage zum Thema referiert. Unbeachtet und undiskutiert bleibt hingegen die alles entscheidende Frage, was grundsätzlich zu tun wäre, um im Angesicht von brennenden Wäldern, von Dürre und Hitzetoten den Klimawandel doch noch irgendwie aufzuhalten. Hier bräuchte es andere Zeithorizonte, langfristige Planung, die streitbare, von Inhalten bestimmte Polarisierung. Und einen Abschied von der Fetischisierung des zeitlich Neuen, aktuell Aufregenden, spektakulär Konflikthaften.
Was also tun? Wie das langfristige Denken fördern, um den existenziellen Krisen der Gegenwart Gehör und Gewicht zu verschaffen? Gewiss braucht es lange schon, so denke ich, eine Art planetarischen Journalismus, der aus der Adlerperspektive Entwicklungen sortiert, ein Denken in der langen Linie vorführt, Nachhaltigkeit als Nachrichtenfaktor begreift und effiziente Formen des Krisenmanagements analysiert und gegenüber einer kurzatmig gewordenen Politik mit Wucht einklagt. All das ist wichtig, gewiss. Aber was könnte jeder Einzelne tun, jetzt und sofort? Hier hat die Künstlerin und Schriftstellerin Jenny Odell einen Vorschlag, den sie in ihrem Buch „Nichts tun“ entfaltet. Dieser Vorschlag lautet schlicht: sich selbst für einige Zeit ins Abseits begeben, abschalten, die Fixierung auf das Spektakel des Moments unterbrechen. Aber nicht (und das ist entscheidend) mit dem Ziel der persönlichen Seelenpflege, sondern als ein Akt der Selbstbehauptung und des Widerstandes, als intellektuelle Unabhängigkeitserklärung. Es gilt, die ureigene gedankliche Spur freizulegen, stets auf der Suche nach neuen Bündnissen und der richtigen Mischung aus Kontemplation und Partizipation, Erkenntnis und Engagement. Und tatsächlich: Diese Freiheit des Rückzugs auf dem Weg zur umso entschiedeneren Einmischung ist nicht verloren. Der Rückzug wird schwieriger, das schon. Aber er bleibt möglich. Denn jeder Mensch ist „Herrscher seines winzigen, schädelgroßen Königreiches“, wie der Schriftsteller David Foster Wallace einmal gesagt hat. Und das heißt: Man kann den Blick abwenden, die Aufmerksamkeitskannibalen und die Provokateure des Tages ignorieren, um sich dann in einer von Krisen geschüttelten Zeit einer einzigen, tatsächlich dramatischen Frage zuzuwenden: Was ist wirklich wichtig?

Aus dem Magazin, Ausgabe November 2021