Gastbeitrag von Dana VowinckelWas der Deutschlandfunk mir bedeutet

Als ich im Juni 2021 bei den 45. Tagen der Deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt (beziehungsweise im Wohnzimmer meiner besten Freundin) den Deutschlandfunk-Preis erhielt, war, nach Freudentränen und -lachen, nach Laudatio und Angstschweiß, mein erster Gedanke: ah, ja, klar, das macht Sinn. Denn, so klischiert akademikerkindermäßig das klingen mag: ich bin mit dem Deutschlandfunk aufgewachsen.

Portrait einer jungen Frau vor einer grauen Betonwand
Dana Vowinckel (Catharina Tew)
Dana Vowinckel, geboren 1996 in Berlin, lebt ebenda. Ab 2015 Studium der Linguistik und Literaturwissenschaft in Berlin, Toulouse, Cambridge. 2021 gewann sie den Deutschlandfunk-Preis beim Bachmann-Wettbewerb mit ihrem Text „Gewässer im Ziplock“ – eine Geschichte über drei jüdische Generationen in Berlin, Chicago und Jerusalem. 
Meine Mutter konnte das Gerede ihrer Kinder (eines davon außerordentlich redselig, nämlich ich) am Morgen nicht ertragen, und so wuchs ich auf mit den trockenen Stimmen im Morgenprogramm des Radios, das sie erst ausschalten würde, wenn es Abendessen gab, zu dem dann auch wieder gesprochen werden durfte. Häufig hatte ich Fragen, die ich mir sorgfältig notierte, etwa „Was ist der Kommunismus?“ und „Wo ist Osnabrück?“, denn aufmerksame Hörer des Deutschlandfunks werden wissen: die Neue Osnabrücker Zeitung hält einen prominenten Platz in fast jeder Presseschau inne. Ich versuchte, zu begreifen, was sich in der Welt bewegte, bis auch ich mich in meiner kleinen Welt bewegte, nämlich von der Grundschule in Berlin-Kreuzberg weiter weg ins ferne Schöneberg, um das Rückert-Gymnasium zu besuchen. Also fuhr ich Morgen für Morgen vom Empfangsort gewissermaßen zum Sendeort – denn meine ehemalige Schule teilt sich ihr opulentes, denkmalgeschütztes Schulhaus mit einer Institution, die ehemals RIAS hieß. Heute steht Deutschlandradio drüber. Das prominente Schild, das man von der Stadtautobahn erkennen kann, verrät noch heute viel über die kulturhistorische Wichtigkeit des Deutschlandradios und seines Senders, der in unsere Küche überschwappte. Und so brütete ich wenig erfolgreich über Physikbüchern, lief gelangweilte Runden über den Sportplatz, schrieb in Windeseile die Hausaufgaben ab, hockte im Winter mit dünnen Strumpfhosen auf der Rauchertreppe, während das Radio, das nebenan arbeitete, meine stille, nachdenkliche Mutter durch den Tag begleitete. Abgestellt wurde es erst vor dem Abendessen, bei dem dann geschnattert werden durfte, so viel man wollte.
So machte es mir also nicht nur wegen dem damit verbundenen Einstieg in den Literaturbetrieb unglaubliche Freude, mit dem Deutschlandfunkpreis ausgezeichnet zu werden – es ergab auf seine Art auch Sinn, dass ich ihn erhielt, sieben Jahre, nachdem ich ausgezogen war. Ich fühle mich dem Sender nun auf eine Weise verbunden – was ja auch bedeutet, dass man sich über ihn beschweren darf: denn auch die Kehrseite des Radios wird mir nicht nur als Hörerin, sondern nun auch als Beteiligte bewusst. Ich teile mir einen Radiosender mit den gleichen Leuten, die in den geschichtswissenschaftlichen Vorlesungen meiner Mutter die jungen Studierenden korrigieren, „weil sie ja selbst noch dabei waren“, meist alte Männer, die meinen, ihr Anruf im Radio, ihre E-Mail an die junge Autorin, die gerade einen Text vertont hat, ihre mit Tippfehlern übersäten Nachrichten in meinem Facebook-Postfach würden meine Haltung dazu verändern, dass es nicht meine Aufgabe ist, ihnen das Gewissen reinzuwaschen, sie nun endlich von der Schuld ihrer Eltern und Großeltern befreien. Die besser wissen, wer wirklich für die Juden sprechen darf und was gute Literatur ist, die sich selbst mit den ausgegrenzten Juden im Dritten Reich vergleichen, weil sie ohne Impfung nur noch in der Kälte vor der Hähnchenbude stehen dürfen. Die Günthers der Republik, die erst aufhören, zu reden, wenn der seelenruhige Moderator die Leitung kappt, weil Zeit für Nachrichten ist, ein erleichtertes Ausatmen, das als Raunen durch die Küchen des Landes geht, im Hintergrund zu hören. Manchmal tut es dann halt doch eher die Zeitung, die zu häufig ungelesen ins Altpapier wandert, oder die Onlineversion der New York Times. Jeden Abend die Tagesschau, natürlich auf dem Laptop, der Fernseher ist nicht angeschlossen. Und trotzdem: ich bleibe dem Deutschlandfunk treu. Von meinem Preisgeld habe ich mir ein Küchenradio gekauft, das nun den ganzen Tag läuft. Manchmal rufe ich meine Mutter an, wenn ich etwas nicht verstehe.

Aus dem Magazin, Ausgabe Februar 2022