Gastbeitrag von Justin Doyle75 Jahre RIAS Kammerchor Berlin

Die Gründung eines neuen Rundfunkchors war 1948 eine gewagte, aber geniale Idee. Nun ist der RIAS Kammerchor seit bereits 75 Jahren im Radio und damit bei den Menschen zu Hause präsent. Obwohl der RIAS in Westberlin beheimatet war, war seine Bedeutung für die Hörer*innen auf der östlichen Seite der Mauer enorm.

Justin Doyle dirigert das Neujahrskonzert vom RIAS Kammerchor und hebt dabei beide für die Musiker von der Akademie für Alte Musik Berlin die Arme.
Justin Doyle entschied sich beim Neujahrskonzert vom RIAS Kammerchor Berlin und der Akademie für Alte Musik Berlin für Werke, die die Bitte um Frieden ins Zentrum stellen (RIAS Kammerchor Berlin / Fabian Schellhorn)
Justin Doyle ist seit 2017 Chefdirigent des RIAS Kammerchor Berlin. Zunächst Chorknabe an der Westminster Cathedral, studierte er später in Cambridge. Doyle arbeitet regelmäßig mit Ensembles wie der AKAMUS (Akademie für Alte Musik Berlin), dem Finnish Baroque Orchestra und dem Ensemble Resonanz zusammen. Er ist auch als Operndirigent gefragt und leitet 2023 die Potsdamer Winteroper. 2018–2022 war er Gastprofessor an der Musikhochschule Hanns Eisler. Seit 2021 ist er Gastprofessor an der Sibelius-Akademie in Helsinki.

Geschichte ist etwas Lebendiges! So habe ich anlässlich des 75. Jubiläums meine drei Vorgänger eingeladen, je ein Konzert mit ihrem ehemaligen Chor zu dirigieren. Denn: Wir sind alle Teil eines Kontinuums, einer künstlerischen Kraft, die sich ständig weiterentwickelt. Die Sänger*innen haben sich im Laufe der Jahre verändert, aber das Verantwortungsgefühl ist dasselbe geblieben. Mit der Gründung der ROC (Rundfunk-Orchester und -Chöre gGmbH Berlin) vor bald 30 Jahren hat sich das Ensemble vom Rundfunkchor zum Konzertchor gewandelt. Essenziell aber bleibt, dass all unsere großen Konzerte in Berlin vom Radio, insbesondere von Deutschlandradio (das 2024 auch das 30. Jubiläum feiert!), übertragen und mit anderen Radiosendern geteilt werden. Wir sind dankbar und stolz, dass wir auch auf diese Weise weltweit Kulturbotschafter sein können.
Schon immer hatte das Radio etwas Magisches. Man kann es nicht sehen! Stellen Sie sich die zahllosen Informationen vor, die durch einen Raum oder sogar durch einen Körper drahtlos übertragen werden – über Technologien verschiedenster Art. Und stellen Sie sich dann auch einmal die Hörer*innen bei der Gründung des Radios vor 100 Jahren vor, die in ihrem Wohnzimmer eine Beethoven-Sinfonie hörten: Was für eine außergewöhnliche Erfahrung muss das gewesen sein! Aus diesem geheimnisvollen Kasten kommen all diese Stimmen und all diese Musik ...
Seit mehr als 40 Jahren feiern wir am 1. Januar um 20.00 Uhr in der Berliner Philharmonie unser Neujahrskonzert – eine Tradition, die von unserem Ehrendirigenten Uwe Gronostay begründet wurde. Diese Konzerte werden live in Deutschlandfunk Kultur übertragen, und obwohl offizieller Beginn Punkt 20.00 Uhr ist, gibt es immer diese zusätzlichen drei Minuten, die wir hinter der Bühne noch den Nachrichten im Radio lauschen: Es liegt eine knisternde Spannung in der Luft, bis wir die Bühne betreten und beginnen dürfen. Das Neujahrskonzert wird vermutlich nicht immer eines von Händels Oratorien sein. Aber da seine Werke die Fähigkeit haben, die Zuhörer*innen bis zu drei Stunden lang in einem dramatischen Rahmen zu fesseln, scheinen sie für diesen Anlass wie gemacht. Händel selbst antwortete wohl auf ein Kompliment über „die edle Unterhaltung“: „Es täte mir leid, wenn ich Sie nur unterhalten hätte; ich wollte Sie besser machen.“ Ganz in diesem Sinne ist es unser Wunsch, dass wir mit unserer Musik die gesamte Hörerschaft berühren. Und das Wunder der Live-Übertragungen im Radio besteht darin: Jeder Mensch in jeder Nation kann diese Musik hören, genau in dem Moment, in dem wir sie aufführen.
Privat höre ich regelmäßig viele verschiedene Radiosender, und zwar nicht nur aus Deutschland oder dem Vereinigten Königreich, sondern auch aus anderen Ländern. Es ist ein wunderbarer Zufallsmoment, das Radio einzuschalten, ohne zu wissen, was man entdecken wird. Unzählige Stücke, Lieder, Klänge, Komponist*innen, Künstler*innen, Stile und Konzepte habe ich zum ersten Mal im Radio gehört, und weit mehr als nur Musik. Das inspiriert! Ideen werden geboren und Gedanken entstehen durch das Hören von Klängen oder Worten. Wenn ich in Berlin in meiner Küche stehe, höre ich zum Beispiel oft denselben lokalen Radiosender wie ein Freund von mir im ländlichen Westkenia: das Luhya-sprachige „Mulembe FM“. Andersherum kann er genauso unser Neujahrskonzert live in Deutschlandfunk Kultur hören. Genau das ist der Zauber des Radios!
Und vor einigen Wochen traf ich meinen Vorgänger Marcus Creed unter dem symbolträchtigen RIAS-Logo des Deutschlandradio-Gebäudes am Hans-Rosenthal- Platz in Berlin. Da ging mir das RIASMotto durch den Kopf: „Eine freie Stimme der freien Welt“. Das ist es, was wir heute sein sollten. Und was auch immer wir singen, ich hoffe, dass der RIAS Kammerchor Berlin weiterhin Generationen von Zuhörer*innen auf der ganzen Welt Ideen vermittelt und zu Träumen anregt.