Gastbeitrag von Rosa LobejägerPoesie und Politik – Lyrik als Gegenstand der demokratischen Debatte

Auch die lyrische Sprache kann als zähe und wehrhafte Stimme im demokratischen Diskurs hörbar gemacht werden. Sie ist dabei Versuchsanordnung, bietet Offenheit, eine Perspektive. Ein Blick auf die gegenwärtige Lyrikszene, auf politische Narrative, Sprachgewalt und Utopien.

Portrait einer jungen Frau, die an eine Wand gelehnt lächelnd in die Kamera blickt
Rosa Lobejäger (Ute Klein)
Rosa Lobejäger, geboren 2003, schreibt über Gräben in Körpern und Städte zwischen Stroboskopflecken. Dabei experimentiert sie in kleinen Literaturmagazinen mit abstrakten Wortgeflechten, zuletzt in „apostrophe“, „TIERINDIR“ und dem „Jahrbuch der Lyrik 2023“. Sie studiert seit 2022 Literarisches Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Lobejäger ist mehrfache Jahresgewinnerin des von Deutschlandradio initiierten Bundeswettbewerbs lyrix. Als Alumna des Wettbewerbs nahm sie im September 2023 an einer Schreibwerkstatt zum Thema „Die wehrhafte Demokratie“ teil, die im Rahmen der Deutschlandradio-Denkfabrik stattgefunden hat.

Was uns überflutet – Bilder, die sich auf der Netzhaut einbrennen: Ein Kokon, gesponnen um einen Schlagstock. Eine Frau, die sich eine schwarze Sturmmaske überstülpt. Demonstrant*innen, die sich das Tränengas aus den Augen wischen.
Zersetzungsmechanismen, das Anthropozän, skizziert auf einem Stück Frischhaltefolie; dass es immer heißer wird, bis wir dann kollabieren zwischen all dem schmelzenden Eis.
Körper, die beherrschen, und Körper, die beherrscht werden; Brandstiftungen in Geflüchtetenunterkünften, Flammen in einem Gefängnis. Ein Giftanschlag auf einen Systemkritiker, eine halbseitige Gesichtslähmung.
Das flimmernde Bild von Massen, die 1989 an der Berliner Mauer zwischen Ost und West oszillieren, das fiebrige Jubeln, die Trabbis, die Bierflaschen.
Das, was unerzählt bleibt; der ständige Strom. Lyrik ist Reizüberflutung, in der alle politischen Kipppunkte der Gegenwart verschmelzen.
Und diese Sprachgewalt kann wehrhaftes demokratisches Mittel sein – als Antithese zur formelhaft limitierten, instrumentalisierten Sprache autoritärer Regime.

Lyrisches Schreiben nach Auschwitz

Paul Celan, der sich als erster Dichter dem annähert, was Adorno 1949 als „Barbarei“ bezeichnet: lyrisches Schreiben nach Auschwitz.
Die Beschwörung der „schwarzen Milch der Frühe“ in der „Todesfuge“ stellt die Ohnmacht, den grenzenlosen Schmerz eindringlich, roh und brutal in den Raum.
Lyrisches Schreiben ist dabei wehrhafter Akt – Celan durchbricht den Mantel des Schweigens und nähert sich einer Sprache an, die die Erfahrung jüdischer Menschen im Holocaust sichtbar macht. Im lyrischen Schreiben, in der Zuwendung zur Kunst erobert sich Celan als jüdischer Lyriker stellvertretend nicht nur ein Stück Deutungshoheit über das historische Narrativ, sondern auch die lange abgesprochene Menschenwürde zurück.

Lyrik als Methode

Lyrisches Schreiben kann außerdem demokratische Methode sein, widerständiges Sprachmaterial, das unflexible politische Wahrheiten konstatiert, zu dekonstruieren und einen kritischen Umgang mit politischen Narrativen anzuregen – indem es politische Textkörper wie Reden von George W. Bush und Osama Bin Laden als Material begreift und sie neu anordnet wie der Dichter H. L. Hix in der dokumentarischen Poesie seines Gedichtbandes „God bless: A political / poetical discourse“.

Lyrik als Ausdrucksform

Lyrik ist Weg, Ausdrucksform zu finden; auch und vor allem dort, wo freier Ausdruck politisch unerwünscht und strafbar ist, wie zuletzt der afghanische Dichter Ramin Mazhar eindrucksvoll beweist, der auf digitalen Kanälen öffentlich und sichtbar gegen das Regime der Taliban anschreibt. Die konkret drohende Gewalt, die Vertreibung und das Schreiben im Exil hinterlassen Einkerbungen in der Sprache, Zerrissenheiten und Brechungen, von denen ausgehend auch Dinçer Güçyeter in „Mein Prinz, ich bin das Ghetto“ dichtet.
Das Ringen um Sprache erwächst dabei aus einer Ohnmacht angesichts politischer Gräueltaten und Kriegen wie in der Ukraine oder im Nahen Osten, mit denen der Lyriker Yevgeniy Breyger in seinem Gedichtband „Frieden ohne Krieg“ und die Lyrikerin Ronya Othmann in „die verbrechen“ schreibend Umgang zu finden versuchen.
Jede Sprache muss kritisch beäugt und dekonstruiert werden – denn jede Sprache wurde und wird immer wieder instrumentalisiert.
Was im lyrischen Schreiben mit diesem Bewusstsein notwendig wird, ist eine „wehrhafte Poesie“ (Max Czollek), die selbst Gegenstand der Debatte werden möchte – und ein Abtasten der sprachlichen Randgebiete, in denen nicht nur formal Grenzen verschwimmen.