Interview der Woche im Deutschlandfunk Evonik-Vorstandschef Kullmann warnt vor „energiepolitischen Desaster“

„Wir zahlen in Deutschland die weltweit höchsten Preise für Strom und für Energie, und jede Industrie, jede Volkswirtschaft lebt und hängt gerade an einer vernünftigen, heißt also kostengünstigen, heißt also verfügbaren Energieversorgung“, sagte Kullmann im Interview der Woche im Deutschlandfunk.

Köln – Der Vorstandsvorsitzende des Chemie-Konzerns Evonik, Christian Kullmann, hat vor einem „energiepolitischen Desaster“ gewarnt und Forderungen nach einem subventionierten Industriestrompreis bekräftigt: „Wir zahlen in Deutschland die weltweit höchsten Preise für Strom und für Energie, und jede Industrie, jede Volkswirtschaft lebt und hängt gerade an einer vernünftigen, heißt also kostengünstigen, heißt also verfügbaren Energieversorgung“, sagte Kullmann im Interview der Woche im Deutschlandfunk. Die von der Bundesregierung avisierten sechs Cent pro Kilowattstunde seien zu wenig: „Dabei wird vergessen, dass diese sechs Eurocent ja eine Nettobetrachtung sind, denn die Steuern, die Abgaben, die kommen ja noch dazu. Das heißt also, wir reden hier nicht von sechs Eurocent, sondern wir reden von 20 Eurocent.“ Kullmann erinnerte in der aktuellen Debatte daran, dass es eine andere Vereinbarung gegeben habe: „Die sechs Eurocent sind nicht das, was wir mit der Bundesregierung besprochen hatten, die Vorstellung eines Industriestrompreises von Herrn Bundeskanzler Scholz lag dermal einst bei vier Eurocent.“ 
„Standort Deutschland steht unter Druck“
Kullmann warnte vor einem Wirtschaftseinbruch: „Insgesamt sehen wir für 2023 eine eher düstere, eine eher schwache wirtschaftliche Entwicklung“, sagte er im Deutschlandfunk, „für mich ist das auch der Einstieg in eine große transformatorische Veränderung der Weltwirtschaft insgesamt.“ Massengüter, ganz gleich in welcher Industrie, würden künftig nicht mehr in Deutschland hergestellt: „Von diesen Industrien werden wir uns hier auf Sicht – und das wird gar nicht mehr allzu lange dauern – wohl verabschieden“, sagte Kullmann, „der Standort Deutschland steht unter Druck.“ In diesem Zuge müsse man aus dem „ministerialbürokratischen Dickicht an Genehmigungsauflagen und Bewilligungsvorschriften“ ausbrechen, so Kullmann, es brauche „den Mut einer klaren politischen Richtungsentscheidung“. 
Jobs, die den Sozialstaat tragen seien gefährdet
Die sinkende Arbeitslosen-Quote hierzulande – trotz Rezession – sei trügerisch: „Die Jobs, die in Deutschland entstehen, sind sehr schlecht bezahlte in der Gastronomie, sind sehr schlechte bezahlte in Servicefunktionen. Das sind Jobs, die beispielsweise keinen Beitrag leisten, weil dort nur wenig Steuern und Abgaben erhoben werden können aufgrund der niedrigen Einkommen, die unseren Sozialstaat, die unser Gemeinwesen finanzieren“, so Kullmann im Deutschlandfunk, „die guten, die attraktiven Jobs, die diese Gesellschaft, diesen Sozialstaat tragen, die gibt es in der Industrie und die sind gefährdet.“ Er warnte vor diesem Hintergrund vor sozialen Verwerfungen: „Wenn ich auf die jüngsten Umfragen gucke, dann sehe ich, dass die AfD bundesweit mittlerweile bei annähernd 20 Prozent liegt“, so Kullmann, „und das ist nicht abstrakt, sondern das betrachte ich als eine sehr konkrete Bedrohung unserer liberalen, unserer toleranten Demokratie hier in unserem Land.“
Abschaffung der Rente mit 63 Jahren: „bedenkenswerter Vorstoß“
Auch vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels sprach sich Kullmann für ein reformiertes Einwanderungsgesetz aus und begrüßte auch die Vorschläge der CDU, über die Abschaffung der Rente mit 63 Jahren zu diskutieren. Die sei ein „bedenkenswerter Vorstoß“, so Kullmann im Deutschlandfunk: „Unser Rentensystem werden wir in der Perspektive nur dann sichern können, wenn wir a) mehr arbeiten, wenn wir b) länger arbeiten, wenn wir c) auch die Rentenhöhen jeweils anpassen.“ Solche Diskussionen werde man in Zukunft führen müssen, so Kullmann: „Der, der diese Diskussionen führt, darf nicht auf Applaus hoffen, aber auf Einsicht in die Notwendigkeit, dass wir hier mehr machen müssen, als wir es gegenwärtig tun, denn gegenwärtig tun wir quasi nichts.“
Das Interview führte Moritz Küpper, Redakteur des Deutschlandfunks, Redaktion Zeitfunk.
Der Deutschlandfunk sendet das Interview am kommenden Sonntag, 04.06.2023 um 11.05 Uhr. 
Im Anschluss ist das Interview der Woche auf der Website nachzulesen:
https://www.deutschlandfunk.de/interview-der-woche.867.de.html
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