Über den Schriftsteller Jan FaktorDer ganz normale Irrsinn

Das Bild zeigt den Schriftsteller Jan Faktor.
Der Schriftsteller Jan Faktor ist mit dem Wilhelm Raabe-Literaturpreis ausgezeichnet worden. (Arne Dedert / dpa / Arne Dedert)
Wer seinen Ich-Erzähler, ja einen ganzen Roman „Trottel“ nennt, hat ein Programm. Er misstraut dem Erzählten oder er sichert sich ab – oder beides. Jan Faktor, dessen „Trottel“ in diesem August erschien, ist ein Solitär in der deutschen Literaturlandschaft. Der gebürtige Tscheche ist ein Außenseiter. Er ist begeisterter Rennradfahrer und ehemaliger Software-Entwickler und Kindergärtner. Nach dem Mauerfall arbeitete er beim Neuen Forum mit. Seine Schreibkarriere begann als experimenteller Autor in den Achtzigerjahren, als er in den inoffiziellen Literaturkreisen des Prenzlauer Bergs verkehrte und nur im Samisdat veröffentlichen konnte. Erst spät begann er, Romane zu schreiben. Vielschreiber ist er dabei nie geworden. Lediglich drei biografisch unterlegte – jetzt würde man sagen autofiktionale – Romane erschienen seit 2006. Wie jeder literarisch ambitionierte Autor bleibt er dabei nicht bei einem bloßen Realismus hängen. Er erfindet sich einen eigenen, sehr typischen, im Deutschen einmaligen Erzählstil. Faktor orientiert sich an der tschechischen Moderne, die man von Jaroslav Hašeks „Die Abenteuer des guten Soldaten Švejk im Weltkrieg“ kennt und die sich bei späteren Autoren wie Bohumil Hrabal oder zeitgenössischen wie Jáchym Topol und Jaroslav Rudiš fortsetzt. Gemeinsam ist diesen Autoren der Sinn für das Skurrile, das Absurde und vor allem verbindet ihre Helden der Blick von Außenseitern auf den ganz normalen Irrsinn des Realen. Faktor, Jahrgang 1951, wuchs in der jungen ČSSR in einer jüdischen Familie auf. Seine Mutter und Großmutter überlebten das KZ Theresienstadt. In seinem Coming-of-Age-Roman „Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag“ erzählt er ungeheuer komisch von seiner Adoleszenz. Sein neuer Roman „Trottel“ setzt im Anschluss an „Georgs Sorgen …“ ein und erzählt, wie es ihn Ende der Siebziger durch eine Gruppe junger Pragtouristen und -touristinnen aus Ostberlin in die Boheme des Prenzlauer Bergs verschlug. Der Roman ist nicht nur eine hellsichtige Rückblende auf die stasidurchseuchte inoffizielle Literaturszene Ostberlins, sondern schildert auch die Phase des großen Umbruchs nach dem Mauerfall, als kurze Zeit alles möglich schien. Die mitunter grotesk überdrehte Erzählung wird mit der großen Lebenskatastrophe Jan Faktors und damit auch des Erzähler-Ichs gegengeschnitten: mit dem Selbstmord des manisch-depressiven Sohnes. Faktor findet für die immer intensiver eingestreuten Szenen, die das Leben des Sohnes berühren, einen ganz neuen, viel existenzielleren Ton. Nur durch den ausschweifenden, mäandernden zeitgeschichtlichen Erzählstrom wird die große Familientragödie erst erzählbar. Mit „Trottel“ legt Jan Faktor eines der verrücktesten und zugleich anrührendsten Leseerlebnisse der letzten Jahre vor.
Jan Faktor wurde für seinen Roman „Trottel“ mit dem Wilhelm Raabe- Literaturpreis 2022 ausgezeichnet. Dieser mit 30.000 Euro dotierte Preis wird jährlich von Deutschlandfunk und der Stadt Braunschweig vergeben und gilt als eine der bedeutendsten Auszeichnungen für deutschsprachige Literatur.